Der lange Weg zu einem hochwertigen neuen ÖPNV
© Kerstin Graupner
In einer gemeinsamen Sondersitzung stimmten die Mitglieder aus vier Ausschüssen am 26. Oktober 2022 darüber ab, ob Kiel der Empfehlung der Gutachter*innen folgen und eine Tram bekommen soll – eine Generationsentscheidung für Kiel, ein Milliardenprojekt für die Zukunft mit dem Potenzial Geschichte zu schreiben und eine Riesen-Investition. 1,2 Milliarden Euro.
Ein Erlebnisbericht vom Abend im Ratssaal von Pressesprecherin Kerstin Graupner.
Gelb, blau, grün und weiß: Diese vier Farben sind am Abend des 26. Oktobers im Ratssaal entscheidend. Jede Farbe steht für einen Stimmzettel im Ausschuss. Gelb für den Wirtschaftsausschuss, blau für den Bauausschuss, grün für den Innen- und Umweltausschuss und weiß für den Finanzausschuss.
Um 18.30 Uhr soll es losgehen, aber noch haben nicht alle ihre Plätze und Farben gefunden. Das ist auch kein Wunder, denn gemeinsame Sondersitzungen dieser Dimension sind äußerst selten. Raschelnde Spannung liegt in der Luft, wie vor einer Prüfung. Um 18.40 Uhr eröffnet Constanze Prange als Ausschussvorsitzende des Wirtschaftsausschusses die Sitzung. Der Wirtschaftsausschuss hat bei dieser gemeinsamen Sondersitzung den Vorsitz, deshalb sitzt sie mit Oberbürgermeister Ulf Kämpfer im Präsidium.
Die Projektgruppe hat aufgereiht daneben Platz genommen. Der städtische Projektleiter Christoph Karius und Gutachter Nils Jänig von Ramboll stellen noch einmal die Ergebnisse der Trassenstudie zur Einführung eines hochwertigen ÖPNV-Systems vor. Was sie sagen, wissen alle. Zwei Jahre lang ist darüber beraten, informiert, diskutiert und gerungen worden. 35,8 Kilometer Trasse sind geplant, die Tram hat das Rennen im Gutachten gemacht. Nun kommt es darauf an, wie die Parteien sich positionieren.
„Lassen Sie uns gemeinsam diese Herkulesaufgabe stemmen für Kiel, für einen attraktiven ÖPNV und eine attraktive Mobilitätswende in unserer Stadt.“
Oberbürgermeister Ulf Kämpfer wirbt noch einmal um Zustimmung: „Es war in diesen zwei Jahren nicht nur alles Ringelpiez mit Anfassen. Es gab einige Probleme zu lösen. Aber es ist uns gemeinsam gelungen, auf Fragen Antworten zu finden und Probleme aus dem Weg zu schaffen. Lassen Sie uns gemeinsam diese Herkulesaufgabe stemmen für Kiel, für einen attraktiven ÖPNV und vor allem für eine attraktive Mobilitätswende in unserer Stadt.“
Dann äußern sich die Sprecher*innen der Parteien:
Falk Stadelmann (SPD): „Wir haben die Chance, in Kiel ein bundesweit besonderes Projekt auf den Weg zu bringen. Kleingeist hat jetzt keine Stunde.“
Rainer Kreutz (CDU): „Das ist ein Riesenbatzen an Geld, den wir hier investieren. Und auch wenn wir ursprünglich das BRT-System befürwortet haben, sagen wir jetzt Ja zur Tram. Denn nur für eine Tram bekommen wir die Fördergelder, die wir brauchen. Allerdings darf das Projekt nicht mit einem Kahlschlag bei Parkplätzen für den Individualverkehr einhergehen.“
Dirk Scheelje (Kieler Grüne): „Auch wenn das geplante Streckennetz der Tram teuer ist – Ziel ist es, den ÖPNV auszubauen. Wenn wir das mit dem bisherigen Busnetz planen würden, wäre es noch viel teurer. Auch deshalb: Großes Kino, dieser neue Tram-ÖPNV.“
Marcel Schmidt (SSW): „Alle wurden bei diesem Prozess mitgenommen, auch die kleinen Parteien. So soll es auch bleiben auch während der langen Planungs- und Bauphase. Lasst uns weiter gemeinsam für die Stadt Gutes tun.“
Maria Laatsch (FDP): „Ich habe viele Fragen zur Finanzierung und Abschreibung gestellt und nur unbefriedigende Antworten bekommen. Unsere Haushaltslage ist keineswegs erfreulich und unter diesen Bedingungen ein 1,2 Milliarden-Projekt zu stemmen, halte ich für unrealistisch.“
Oberbürgermeister Ulf Kämpfer reagiert direkt: „Ja, die Haushaltslage ist nicht berauschend, aber ein hochwertiger ÖPNV ist eine Daseinsvorsorge und ein Zukunftsprojekt, eine so große Summe an Fördergeldern bekommen wir nie wieder. Und: Sie können sicher sein, jede Investition wird abgeschrieben.“
Es wird weiter debattiert, auch die kleinen Fraktionen melden sich zu Wort. Björn Thoroe von die Linke sieht in der Tram eine „Chance für die autofreie Innenstadt“. Und Ratsherr Andreas Halle (Klima, Verkehr, Meer) wies noch einmal daraufhin, dass es möglichst viele Teilstrecken ohne Oberleitungen geben sollte.
Dann kommt es zur Abstimmung. Erst der Wirtschaftsausschuss (gelb), dann der Bauausschuss (blau), dann der Innen- und Umweltausschuss (grün) und zum Schluss werden die weißen Karten (Finanzausschuss) in die Höhe gereckt.
Um 19:44 Uhr steht fest: Vier Ausschüsse haben mit großer Mehrheit (nur die AFD war dagegen) dem Zukunftsprojekt „Eine Tram für Kiel“ zugestimmt. Ein paar Ausschussmitglieder klatschen. Kathrin Teichert als Projektbegleiterin aus dem OB-Büro hat Tränen in den Augen und ich muss ganz spontan die Projektgruppe umarmen.
Es ist irgendwie historisch, was da grad passiert ist. Auch wenn die letzte Entscheidung bei der Ratsversammlung am 17. November liegt, kann jetzt nicht mehr viel passieren. Kiel bekommt eine Straßenbahn. Eine moderne Tram kombiniert mit einem ausgeklügelten Bussystem. Ich habe Gänsehaut an diesem Abend und bin fast ein bisschen froh über die norddeutsche Gelassenheit der Ausschussmitglieder. Wenn die nicht alle so entspannt wären, würde ich vor Freude mit gelben, blauen, grünen und weißen Karten in der Hand auf dem Tisch tanzen.