Wem gehört das Trottoir?
© Lyssa-Junis Plothe
Durch die Mobilitätswende wird auch die Frage nach der Nutzung des verkehrlichen Raums neu definiert. Die Landeshauptstadt Kiel ist dabei seit rund zehn Jahren Vorreiter einer im besten Sinne begehbaren Stadt: Mit ihrer Fußwegestrategie – genannt „Fußwegeachsen- und Kinderwege-Konzept“ – entwickelt die einstige Autostadt seitdem ein durchgehendes Wegenetz quer durch alle Stadtteile.
Schon seit 2011 leistet die Landeshauptstadt Pionierarbeit für Fußgänger*innen: „Wir waren mit diesem Sisyphos-Projekt der Verkehrswende ziemlich voraus“, sagt der Kieler Verkehrsplaner Christian Stamer.
Kiels Straßen und Wege werden seitdem aus- und umgebaut oder neugeschaffen. Fußwege vor allem auch für Kinder sicherer zu machen, war von Beginn an oberstes Gebot, erinnert sich Stamer an die Anfänge der Kieler Wegestrategie im Jahr 2008. Schüler*innen sollten besser zu sehen sein und auch bei gefährlichen Querungen gut von Ort zu Ort gelangen. Von Beginn an ist Stamer, Sachbereichsleiter Mobilitätsmanagement im Kieler Tiefbauamt, dabei und plant mit Kolleg*innen Wege sicher, barrierefrei und viertelübergreifend.
Eine der aktuellsten Umsetzungen findet sich in der Danziger Straße im Quartier Ellerbek-Wellingdorf: Hier wurden zunächst über den Ortsbeirat Anregungen von Bürger*innen gesammelt. „Über eine Projektförderung für das ganze Quartier konnten wir dann eine umfangreiche Kinderbeteiligung umsetzen. Das ist nicht immer selbstverständlich“, sagt Christian Stamer.
Auch für mobilitätseingeschränkte Personen erhöhen barrierearme Wege den Bewegungsradius im Alltag.
Auch die dortige Theodor-Storm-Schule, Senior*innen und umliegende Vereine wurden einbezogen. Die anliegende Kieler Kuhle wurde einen Tag versuchsweise für Autos gesperrt, Kinder konnten die gewonnene Freifläche zum Spielen nutzen und ihre Ideen einbringen. „Die Vorschläge der Bürger*innen nahmen wir mit, glichen sie mit unserer eigenen Begutachtung ab und erstellten in Zusammenarbeit mit anderen Ämtern eine Planung“, schildert Stamer.
„Gute Wegeführung zahlt sich für alle aus,“ ist er sicher. Durch Gehwegelemente, feste Breiten, Bürgersteig-Absenkungen und Zebrastreifen und einer leicht verständlichen Fußgänger- und Radwegeführung mit Pflasterung und Piktogrammen werden so Wege und ihre Knotenpunkte komfortabler und sicherer nutzbar für alle. „Auch für mobilitätseingeschränkte Personen erhöhen barrierearme Wege den Bewegungsradius im Alltag. Sie gelangen so sicher von Quartier zu Quartier.“
Die Anforderungen des Kieler Konzepts sind vielfältig. Es unterscheidet Allzeitwege, Freizeit- oder saisonale Wege und Kinderwege, die von Schüler*innen begangen werden. Erfasst, ausgebaut und erhalten werden die Wege je nach ganzjähriger Nutzbarkeit, witterungsgemäß und jahreszeitlich – und bisweilen sogar unterschieden nach tageszeitlicher Nutzung. „Unbefestigte Wege planen, bauen und pflegen wir anders, als Wege, die von Kindern genutzt werden. Die sind zum Beispiel breiter und müssen anderen Anforderungen genügen,“ erklärt Christian Stamer.
Etwa fünfzig Maßnahmen sind aktuell in der Detailumsetzung.
Woran der Bürger das merkt? „Am besten gar nicht“, sagt Stamer und schmunzelt. Er meint: Das Kieler Wege-Konzept schafft Voraussetzungen, die man oft nicht bewusst wahrnimmt – deren Fehlen sich jedoch nachhaltig auswirkt. „Eine durchgehende Führung für Blinde mit taktilen Elementen ist zum Beispiel wichtig.“
Die Kieler Fußwegestrategie wächst seit Beginn ihrer Umsetzung ständig. So entwickelt Kiel ein Wegenetz, das jährlich in Abstimmung mit den Ortsbeiräten, mittels Beteiligung umliegender Schulen und ihrer Schüler*innen kommuniziert und neu priorisiert wird. Die quartiersübergreifende Planung der Landeshauptstadt ist kleinteilig und über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Etwa 50 Maßnahmen sind aktuell in der Detailumsetzung.
Eine Stadt der Radler ist auch eine fußgänger- und umweltfreundliche Stadt.
Und auch das Bild der Danziger Straße ist heute ein anderes. Durch vorgezogene Aufstellbereiche – also eine Verbreiterung eines Gehwegabschnittes über den Parkstreifen hinaus bis an die Fahrbahn – wurde die Sichtbarkeit von Fußgänger*innen und besonders Kindern verbessert. Der Fußweg ist barrierefrei ausgebaut, die Fahrbahn punktuell schmaler – und von der Schule wurde der Sichtbereich der Schüler*innen optimiert. Poller und Fahrradbügel verhindern nun zugeparkte Kurven. „Nicht alle Anregungen können wir umsetzen“, bedauert Stamer. So konnten wegen der Leitungen entlang der Straße zum Beispiel keine zusätzlichen Bäume gepflanzt werden.
Die erhobenen Daten, erprobten Verfahren und kurzen Abstimmungswege bringen inzwischen auch den Kieler Radverkehrsausbau kontinuierlich voran. „Eine Stadt der Radler ist auch eine fußgänger- und umweltfreundliche Stadt.“ Christian Stamer findet das selbstverständlich. „Kiel ist schon ein besonderes Pflaster“, sagt er und ergänzt: „In welcher Großstadt kommen sowohl der Oberbürgermeister als auch der Leiter des Tiefbauamtes täglich mit dem Rad zur Arbeit?“
Titelbild: Lyssa-Junis Plothe